Bitkönig

Der Tag davor. Es ging mir nicht besonders, also hatte ich die Planung über den Haufen geworfen und mittags den Feierabend eingeläutet. Ein wenig Einkaufen, um mich einem gepflegten Nachmittag der Erholung hinzugeben, war der neue Plan.

Er hatte einen anderen Plan. Seine grosse Weisheit sagt ihm anscheinend, mir sei am besten mit Action zu helfen. Vielleicht hat er aber auch nur einen schrägen Humor. Egal, der grosse Stratege wird schon wissen was er tut.

Grad zuhause angekommen jedenfalls bimmelte das Handy, Datenmassaker im Hauptserver. Umdrehen, zurück ins Büro, Lage checken. Lage beschissen. Stundenlange Notfallreparatur über die Datenleitung. Für eine Nachtschicht war ich wirklich nicht in der Lage, es musste irgendwie auch so gehen.

Die Nacht war kurz. Schmerzen in den Halswirbeln und Stechen in der Seele. Oder andersrum. Die Planung sah für den Morgen einen Termin bei der Knochenverbiegerin vor, wenigstens eins davon kann man ja reparieren lassen.

07:00 Das Handy bimmelt, der Lautsprecher springt fast aus dem Gehäuse, ich werde wach. Er hat umgeplant, schon wieder. Mit der Zahnbürste in der Klappe und ohne Socken nehme ich die Desastermeldungen der vergangenen Nacht entgegen. Die Anlage steht.

07:30 Mit noch leicht verwaschenem Blick kippe ich zwei Becher Kaffee in mich rein, schnappe mein Notebook und renne zum Auto. Die Knochenverbiegerin wird informiert, dass das heute nichts werden wird und ich mir die Knochen selber verbiege.

08:00 Das Büro mit seiner operativen Hektik und den 9-to-5-Insassen langweilt mich auch heute wieder. Noch in der Lobby wird Bitkönig zwo informiert, denn dieses Desaster ist ein zwei-Personen-Desaster, keine Solonummer.

08:30 Das Blaulicht auf dem Dach, die Notebooks auf der Rückbank rasen wir ... zum Kollegen nach Hause. Diese Anlage ist wirklich nicht für gute Klamotten gemacht und eine Chance zum richtigen Einkleiden hatte ja nur ich.

09:00 Zwei Zerlumpte rasen durch die Lande. Normalerweise wäre das die Zeit wo ich damit beginnen kann, meinen Namen zu buchstabieren.

11:00 Parkplatz. Dort wo normalerweise Laster stehen, steht nichts. Dort von wo normalerweise die Geräusche einer Produktion herüberdringen, dringt der Furz eines Eichhörnchens an mein Ohr. Der Patient ist anscheinend ziemlich tot.

11:30 Die Obduktion beginnt. Zwei elfjährige Server liegen auf dem Seziertisch. Alpha ist hirntot, gibt nur noch ein müdes Röcheln von sich und hat bis auf eine sämtliche Platten verloren. Sie haben ihn in der Nacht alle 30 Minuten gebootet, um wenigstens 10 Minuten am Stück noch arbeiten zu können. Beta schnauft wie ein rachitischer Gaul und ist nur damit beschäftigt, die durchs Booten ständig abreissenden Datenbankverbindungen zu Alpha wiederherzustellen.

12:00 Er hat doch ein Herz. Keine Leberkässemmeln, Wurst, Schinken, Körnerbrötchen !

13:00 Standardprozedur ist es, die Daten zu sichern und zu reparieren. Gigabytegrosse Datenbanken reagieren gerne mit einem allergischen Schock, wenn man ihre Maschinen schneller bootet als sie ihr Hochfahren abgeschlossen haben. Wie gut, dass Alpha seine Daten nur noch byteweise von sich gibt, das macht jede Aktion schneckenlangsam und man hat genug Zeit, die nächsten Schritte zu überdenken..

15:00 Wir können zwar nicht produzieren, aber wir wissen ganz genau, was wir wann von 2004 bis gestern nacht in jede Verpackungseinheit gefüllt haben. Ist ja auch schön.

16:00 Plan A sieht vor, Alpha wiederzubeleben. Das Eventlog reicht gerade mal sechs Stunden zurück und ist ausschliesslich rot. Das ist ungefähr so, als würde man vom Hochhaus springen, unten auf der Strasse vom Bus überfahren und anschliessend mit einem Presslufthammer sanft in den Asphalt einmassiert werden. Und der Notarzt würde neben einem knien und sagen: "Hey, kein Thema, den Termin in zwei Stunden zum Fussballspielen schaffen Sie! Privat oder Kasse ?"

18:00 Plan A ist überraschend gescheitert. Er mag ja vielleicht Wunder wirken, Marienstatuen zum Weinen bringen und Tote lebendig machen können. Ich kann auch Wunder wirken und Frauen zum Weinen bringen, aber das mit dem Tote aufwecken steht nicht auf meiner Skill-Card. Wir sind halt doch alle irgendwie spezialisiert.

18:30 Der Ersatzserver für den verblichenen Alpha steht im Büro 150 km weiter. Jungfräulich, uninstalliert, seine planmässige Geburt steht in einer Woche bevor. Mit den geeigneten Medikamenten wäre es eventuell möglich, die Wehen innerhalb von 12 bis 24 Stunden einzuleiten.

19:00 Plan B wird geschmiedet. Er sieht vor, Alpha2 trotzdem liefern zu lassen, ihn provisorisch hinzuflicken und anzuschliessen. Könnte bis zur Frühschicht klappen.

19:30 Könnte. Denn die 9-to-5-Fraktion sitzt bereits im Reihenhaus, badet die gestressten Hinterbacken und lässt sich berichten, dass Lars-Kevin heute im Kindergarten eine Blume gemalt hat. Alpha2 steht hinter Panzertüren. Der Schlüssel dazu liegt im Safe. Alle Leute die die Safekombination kennen, sind nicht erreichbar. Plan B wird direkt neben Alpha beerdigt. Die Ansprache ist kurz, aber knapp und besteht eigentlich ausschliesslich aus Schimpfwörtern.

20:00 Die Versorgungslage ist schlecht. Als sich um 17 Uhr abzeichnete, der Tag könnte ein klein wenig länger werden, hatte ich, wie die Werbung es mir empfiehlt, zwei Snickers gekauft. Das war ein Fehler, 20 Stück wären näher dran gewesen.

20:30 Plan A und Alpha werden exhumiert.

23:00 Die Nachtschicht, die sich bereits auf einen ruhigeren Verlauf eingestellt und im Pausenraum auf die Bänke gelegt hatte, wird aufgeweckt. Operationen am offenen Herzen , Stromschläge, Dumps und hochdosierte Installations-CD brachten Alpha zurück ins Leben. Für exakt 10 Minuten. Die Nachtschicht legt sich wieder hin.

23:30 Plan A und die Reste von Alpha werden eingeäschert. Ich muss ein klein wenig weinen. Er hat Eisregen geschickt.

00:00 Nach 12 Stunden beginnt die Konzentration nachzulassen, alberne Ideen brechen sich Bahn. Dies ist die Geburtsstunde von Plan C. Plan C ist von seiner Konzeption her einfach und klingt vollkommen sinnlos. Wenn Alpha schon tot ist, was soll Beta dann tun. Man sollte ihm helfen, Alpha baldmöglichst nachfolgen zu können. Am besten durch exzessive Überlastung.

00:15 Der rachitische Beta wird gedopt. Er ist mit seinen eigentlichen Aufgaben schon hart an der Grenze, nun wird er gnadenlos überlastet. Er beginnt dicke Backen zu machen, als Gigabyte um Gigabyte an Daten und Software auf ihm landen. Betas Platten sind vergleichbar mit Damenhandtaschen, dem einzig anderen Gegenstand im Universum, der mehr enthält, als laut gängiger physikalischer Grenzen möglich ist.

02:30 Die Nachtschicht wird erneut von den Bänken geholt. Die Produktion läuft an. Beta bricht auf der Stelle zusammen.

02:45 Pragmatismus macht sich breit. Noch mehr an früher total wichtigen, in der aktuellen Situation aber vollkommen verzichtbaren Funktionen auf Beta werden abgeschaltet, abgeklemmt, totgelegt. Die Nachtschicht wird auf dem Weg zu den Bänken abgefangen und wieder ins Werk geschickt. Die Produktion läuft an. Keiner rechnet ernsthaft damit, dass sie länger laufen wird als eine Stunde.

03:45 Beta läuft noch immer. Er ist irgendwo in der Mitte zwischen Rot- und Weissglut, aber er hält durch.

04:00 Wir rücken ab. Das Besprechungszimmer, das wir innerhalb von 17 Stunden in einer wirklich beeindruckenden Weise verwüstet hatten, wird provisorisch hergerichtet.

05:00 Auf der Autobahn gondeln wir mit 40 Sachen hinter einem Schwertransport her, der nicht überholt werden kann. Ja, Er hat uns einen Erfolg geschenkt. Aber nicht, ohne seinem bizarren Humor noch ein kleines Stückchen Zucker zu geben.

07:00 Ich lege eine Klamottenspur vom Auto zum Schlafzimmer und falle schlafend neben das Bett.

08:15 Das Telefon klingelt. Ich stehe mit tellergrossen Augen und klopfendem Herzen im Bett. "Sie haben bei unserem Preisausschreiben gewonnen. Rufen Sie unter dieser Nummer zurück" tönt es von einem Band. Sämtliche Telefone werden abgeschaltet.

12:00 Für Seelenstechen bin ich zu müde, aber die Halswirbel treiben mich aus dem Bett. Wenn ich schon nicht schlafen kann, kann ich auch ins Büro fahren. Die 9-to-5-Fraktion ist vollständig anwesend. Bitkönig zwo fehlt. Er hat keine verbogenen Wirbel und kann daher offenbar besser schlafen.

17:00 Kleine Kreise erscheinen vor meinen Augen. Ich beschliesse dem rosa Kaninchen zu folgen, das mich nach Hause bringt und falle erneut in mein Bett.

01:30 Acht Stunden Schlaf wirken Wunder. Nur was zum Henker soll ich um 1 Uhr dreissig in der Nacht machen, wenn ich quietsch-wach in der Landschaft stehe ? Ist irgendwo vielleicht ein Server kaputt ? Ein unlösbares Problem, anyone ?

Und die 9-to-5-Fraktion schlummert süss und selig und träumt davon, dass Lars-Kevin gestern einen Baum gemalt hat.
feinstrick - 22. Feb, 19:42

Ich möchte nicht tauschen. Aber der Katastrophenbericht war trotzdem (oder gerade deswegen?) sehr unterhaltsam.

Ach, und ich glaube kaum, dass die 9-to-5-Fraktion glücklicher ist - auch, wenn das auf den ersten Blick so aussieht.

castagir - 22. Feb, 23:45

Oh ja

Nachdem einen wirklich engagierten Versuch, mich dieser Fraktion anzuschliessen, kann ich dem nur zustimmen.

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